Neben den üblichen Methoden, im Alltag Konflikte zu bewältigen, nämlich Unterdrückung (der anderen Position), Verzicht (der anderen Position auf Umsetzung ihrer Ziele, also sozusagen „freiwillige Unterdrückung“) und Kompromissen (bei denen die kompromissbreiten Gruppen oft ganz oder teilweise auf ihre Freiheit verzichten), werden überall auf der Welt neue, andere Methoden entwickelt. Diese basieren häufig auf der Forderung nach Lösungen, wie die Wünsche aller Konfliktparteien uneingeschränkt durchgesetzt werden können.

Die Betzavta-Methode (hebr. Betzavta = Miteinander) beschreibt einen Ansatz der Demokratiepädagogik, der in den 1980er Jahren am Adam-Institut in Jerusalem entwickelt wurde. Das Ziel dabei ist es, einen Konflikt in ein Dilemma umzuwandeln. So sollen die Teilnehmenden zu der Erkenntnis gelangen, dass es notwendig ist, zusammen statt gegeneinander zu arbeiten, um in einer Gesellschaft kreative Lösungen zu finden, in der alle Menschen als gleichwertig angesehen werden.
Grundsätzlich unterscheidet Betzavta zwischen sieben Demokratiemodellen (neutrale liberale Demokratie, liberale wertorientierte Demokratie, Sozialdemokratie, sozialistische, multikulturelle, nationale und feministische Demokratie), die alle unterschiedliche Positionen zu den folgenden demokratischen Grundfesten beziehen: Gleichstellung, Freiheit, Rechte, das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit, Mehrheitsbeschluss und Rechtsstaatlichkeit.
Grundsätzlich wird zwischen einer wertneutralen Demokratie und wertorientierten Demokratien unterschieden. Der Begriff „neutrale Demokratie“ geht auf den amerikanischen Philosophen John Rawls zurück, der folgendes Gedankenexperiment vorschlägt:
Der einzelne Mensch soll sich mit dem „Schleier des Nichtwissens“ („Veil of Ignorance“) umgeben, d.h. er:sie weiß nicht, welche Position ihm:ihr in der Gesellschaft zukommt: Frau oder Mann? Mit oder ohne Migrationserfahrung? Arm oder reich? Religiös oder säkular? Krank oder gesund?
Somit lernen Menschen, außerhalb ihrer eigenen Lebensrealität zu denken und Perspektiven aller miteinzubeziehen. Nach Rawls sollten nach der Lüftung des „Schleiers des Nichtwissens“ folgende Grundsätze akzeptiert werden:
1. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf völlige Freiheit. Die Grenzen der persönlichen Freiheit sind dort angesetzt, bis wohin gleiche Freiheiten für alle möglich sind.
2. Ökonomische Ungleichheit ist gerechtfertigt, wenn sie zum Gemeinwohl und zum Wohl der am stärksten benachteiligten Menschen führt, z.B. indem hohe Vermögen oder Einkommen stärker besteuert werden. Ferner müssen Positionen und Ämter allen offenstehen (= faire Chancengleichheit).
3. Die Prinzipien, nach denen eine Gesellschaft gerecht wird, sind Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Gleichheit ergibt sich aus der Tatsache, dass unter dem „Schleier des Nichtwissens“ niemand weiß, welche gesellschaftliche Position er:sie hat und demzufolge nur mit der Kategorie „Mensch“ gearbeitet wird, ungeachtet der Merkmale Geschlecht, Herkunft, sexuelle Orientierung etc.
Freiheit ist ein Grundprinzip, für das sich alle unter dem „Schleier des Nichtwissens“ einsetzen, da jede Person die für die eigene Situation oder Lebensweise größtmögliche Freiheit anstrebt. Brüderlichkeit meint Solidarität mit Schwachen, die notwendig wird, da jede Person unter dem „Schleier des Nichtwissens“ potenziell zu den gesellschaftlich Schwachen gehören könnte.
Die zwei Grundannahmen bei Betzavta sind die Gleichwertigkeit aller Menschen und damit einhergehend die aktive Anerkennung des gleichwertigen Rechts eines jeden Menschen auf Freiheit. Die Lösungsfindung eines Konflikts soll auf der Grundlage von Toleranz, Rationalität und Kreativität erfolgen.
Toleranz heißt hier, dass die andere Person das Recht hat, eigenständig zu denken und zu handeln, und dass man die andere Person akzeptiert, besonders wenn deren Gedanken und Taten nicht den eigenen entsprechen.
Rationalität bedeutet, dass wir allgemeine Positionen und insbesondere unsere eigenen Einstellungen kritisch prüfen können und diese nicht als selbstverständlich hinnehmen.
In einer Konfliktsituation müssen wir uns mit anderen Einstellungen oder Meinungen auseinandersetzen und wollen in der Regel die von uns präferierte Lösung durchsetzen. Daher geschieht es konsequenterweise oft, dass wir die anderen Meinungen zu dem Thema oder die Bedürfnisse anderer am Konflikt beteiligten Personen abwerten, allein aufgrund der Tatsache, dass wir uns entscheiden müssen. Somit entsteht ein Klima der Feindschaft und Konkurrenz.
Bei Betzavta lernen die Teilnehmenden, andere Meinungen zu akzeptieren, ohne sie abzuwerten. In Konfliktsituationen geht es folglich nicht mehr um eine Konkurrenzsituation (du oder ich), sondern um Partnerschaft und die gemeinsame Suche nach einer Lösung.
Dabei durchlaufen die Teilnehmenden folgende drei Phasen:
1. Klärung von Positionen der Teilnehmenden und Bewusstseinsschaffung für die
Konflikte
2. Umwandlung des Konflikts zum Dilemma
3. Kreative Lösungen für Dilemmata
In der ersten Phase werden die Teilnehmenden gebeten, zu einer kontroversen gesellschaftlichen Frage Stellung zu beziehen. Anschließend versuchen sie, sich gegenseitig vom jeweils eigenen Standpunkt zu überzeugen.
Die Übungsleitung achtet dabei darauf, dass alle Teilnehmenden zu Wort kommen und sich auch frei äußern können (mit Ausnahme von menschenverachtenden Meinungen). Ferner dokumentiert sie den Verlauf der Diskussion mit den vorgebrachten Meinungen und Argumenten, die sie den Teilnehmenden am Ende darlegt. In dieser Phase erkennen die Teilnehmenden, dass sie noch nicht die Schwachpunkte der eigenen Position oder mögliche gemeinsame Lösungen sehen können.
Bei der zweiten Phase wird ein Konflikt in ein Dilemma umgewandelt, indem Teilnehmende einen inneren Konflikt zu einem Thema gedanklich durchspielen.
Es geht darum, dass jede Person sich mit verschiedenen Positionen zu einem kontroversen Thema emotional und intellektuell verbindet und so oft zu dem Schluss kommt, dass es die beste Lösung wäre, wenn beide Positionen nebeneinander stehen gelassen werden könnten. Was sind die Ziele in dieser zweiten Phase?
Erstens soll ein möglichst komplexes Verständnis für unterschiedliche Positionen gefördert werden. Außerdem sollen die Teilnehmenden das Recht anderer auf Freiheit mehr akzeptieren und schließlich soll nach Lösungen gesucht werden, die die Rechte möglichst vieler Parteien berücksichtigen.
Die dritte Phase widmet sich der kreativen Lösungsfindung für Dilemmata. Zur Veranschaulichung kann ein Beispiel aus dem Bereich der Gleichstellung herangezogen werden:
Viele Frauen stehen vor dem Dilemma, dass sie sich zwischen Kindererziehung und Karriere entscheiden müssen. Nun gibt es verschiedene persönliche und gesellschaftliche Gründe, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, also wirkt die Entscheidung zunächst einmal frei. Die Unfreiheit besteht hier allerdings darin, dass Frauen sich in dieser Situation entscheiden müssen, Männer in der Regel nicht. Anstatt also über die zwei Alternativen, Kinder oder Karriere, nachzudenken, sollte man eine Lösung finden, damit Frauen gar nicht erst in diesen Entscheidungszwang geraten, z. B. flächendeckend gute Ganztagsbetreuung von Kindern oder mehr Aufstiegschancen für Teilzeitbeschäftigte.
Bei Betzavta werden die Teilnehmenden angeleitet, sich in 90-minütigen Einheiten (bestehend aus einer Aufwärmphase/Einführung, erlebnisorientierten Übungen, einem Plenumsgespräch und einer Zusammenfassung) dieser kreativen Lösungsfindung anzunähern.
Insgesamt bietet die „Betzavta“-Methode eine sinnvolle theoretische Grundlage und augenöffnende Übungen, die Demokratie erlebbar machen und die Bedeutung der Demokratie für das Leben des einzelnen Menschen hervorheben.
Teilnehmende erkennen ihre Einflussmöglichkeiten innerhalb eines demokratischen Systems, den Wert ihrer Stimme und die Chancen kreativer demokratischer Lösungsfindung jenseits des Mehrheitsbeschlusses.
Quelle:
Maroshek-Klarman, Uki und Saber Rabi (2019): Mehr als eine Demokratie. Sieben verschiedene Demokratieformen verstehen und erleben – 73 Übungen nach der „Betzavta“-Methode.
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