Das "Flipped Classroom" Konzept wurde 2007 - 2008 von Bergmann und Sams (vgl. 2012) begründet. Die beiden Lehrer hatten den Eindruck, dass deren SchülerInnen oft frustriert waren. Sie stellten fest, dass dann, wenn die SchülerInnen eine Lernbegleitung wirklich brauchten, die Lehrenden nicht anwesend waren. Die SchülerInnen fühlten sich mit ihren Hausaufgaben alleine gelassen. Bergmanns und Sams Fazit: individuelle Hilfestellung ist im Lernprozess notwendig und nicht jede SchülerIn lernt gleich schnell zur selben Zeit! Daraufhin bauten die beiden ihre Chemie und Mathematik Lektionen um. Alles was bisher im Klassenzimmer abgelaufen war, wurde auf Videos aufgenommen und den SchülerInnen zur Vorbereitung auf den Unterricht zur Verfügung gestellt. Alles was zuvor Hausaufgaben gewesen waren, wurde nun nach dem Anschauen der Videos im Klassenzimmer unter Hilfestellung der Lehrbegleitenden alleine oder in Gruppen bearbeitet.
Damit wird die Rolle des Lehrers hin zur Lernbegleitung verändert. Eine Umstellung für Lernende, die bereits wissen "wie Schule funktioniert" und Lehrende, die gelernt haben "wie unterrichten funktioniert".
Dieses Experiment möchte die HP+ wagen, denn die Liste der Vorteile ist lang... Doch bevor wir uns dieser widmen, schauen wir uns die Unterschiede des klassischen Lernprozesses zum Lernprozess im Flipped Classroom an:
Klassisch werden fachliche Inhalte durch die Lehrperson vor einer Gruppe Lernenden vorgetragen, möglicherweise angereichert mit didaktischen Methoden in Gruppenarbeit usw. Alle lernen das Gleiche zur selben Zeit. Durch Bearbeiten von Aufgaben, die Lernende individuell für sich durchführen, werden die Inhalte gefestigt. In Prüfungen wird -klassisch- das Fachwissen abgeprüft, das vorgegeben wurde. Daraus entsteht die Qualifikation, zum Beispiel ein Zeugnis oder eine staatliche Anerkennung in der Heilpädagogik. Klassischer Weise werden Lernziele durch den Lehrplan die Lehrenden und Prüfenden vorgegeben. Dadurch ist individualisiertes Lernen nach eigener Interessenlage oder Talenten erschwert.
Das Flipped Classroom Konzept unterscheidet sich darin, dass die Inhalte des Fachwissens im Voraus erarbeitet werden. Bergmann und Sams nutzten dazu Videos, es können jedoch auch Webinare, eBooks, Audios, etc. sein. Die lernende Person nimmt das Fachwissen individuell in eigenem Lerntempo, Lernphasen, Dauer und in präferierter Reihenfolge auf. (Aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen und einem sich logisch aufbauendem Lernprozess, werden Themen durch die HP+ für einen gewissen Zeitraum vorgegeben.)
Im Zusammensein mit anderen werden die Inhalte vertieft, Wissen angewendet, erprobt, weiter entwickelt oder zusammen erarbeitet. Die Kraft des sozialen Austauschs und miteinander Wachsens wird gezielt genutzt.
Rückschlüsse auf die Kompetenz werden durch Transferaufgaben gezogen. Das können Reflexionsaufgaben sein, Aufgaben Konzepte und Methoden anzuwenden und konkrete Angebote in der Praxis, z.B. dem Praktikumsort, zu gestalten. Der Praxistransfer ist ein logischer Schritt im Kontext jeglichen Fachwissens. Dabei liegt die Verantwortung nicht beim Lehrenden. Häufig sagen FachschülerInnen: "Mir fehlt der Praxisbezug." Der Impuls und die Lenkung zum Praxisbezug gibt die lernbegleitende Person, wird jedoch durch die Lernenden selbst vollzogen und liegt in deren Verantwortung.
Beim Flipped Classroom Konzept sind Lehrende, die Wissensträger sind, nicht das zentrale Mittel. LernbegleiterInnen bereiten das Wissen auf, stellen es zur Verfügung und geben Impulse und Anregungen dieses auf sich selbst und die aktuelle oder zukünftige Berufssituation hin anzuwenden. Sie stehen für Fragen zur Verfügung und geben dann und da Hilfestellung wo sie benötigt wird. Bei der einen mehr und dem anderen weniger, ganz individuell. Die Lernenden unterstützen sich gegenseitig und lernen dabei eine wohlwollende Fehlerkultur kennen. Durch das Feedback untereinander wird geübt vertrauensvoll ehrlich Rückmeldung zu geben, sich und anderen wahrhaftig zu begegnen und vermeintliche Schwächen nicht zu verstecken. Ideen anderer werden geprüft und aufgrund fachlicher Begründungen, nicht aus Emotionen heraus, entschieden einzubauen oder auch nicht.
Die HP+ möchte den Versuch wagen als erste Fachschule für Heilpädagogik dieses Konzept in Umsetzung zu bringen. Durch das Konzept soll den Teilnehmenden kein Nachteil entstehen. Es soll ermöglicht werden innere Differenzierung und Individualisierung zu maximieren, gemeinsam Lernziele zu entwickeln und vor allem auf Augenhöhe zu lernen.
ExpertInnen lernen dabei ebenso im Prozess, wie die TeilnehmerInnen.
Ein spannender Prozess steht bevor - wer möchte dieses Abenteuer mit gehen?
Wie versprochen:
Weitere Vorteile, die das Flipped lassroom Konzept mit sich bringt:
die Sprache der heutigen Lernenden sprechen/ kulturelle Augenhöhe (Multimedia-Nutzung)
unterstützt vielbeschäftigte Lernende
hilft unterstützungsbedürftigen Lernenden (wer braucht die meiste Hilfe)
hilft Lernenden aller Leistungsstufen (mit besonderen Bedürfnissen)
ermöglicht Lernenden ihrem eigenen Lerntempo nachzugehen
erhöht die Lernenden – Lehrenden - Interaktion
ermöglicht es den Lehrenden die Lernenden besser zu kennen
erhöht die Interaktion zwischen den Lernenden
unterstützt Beziehungsaufbau und Netzwerkbildung
ermöglicht eine echte Differenzierung
ändert das Klassenmanagement (keine Langeweile mehr)
sorgt für Transparenz des Lernangebotes
ist eine großartige Technik für Lehrende, die nicht vor Ort sein können (Überregionalität/ Internationalität)
Kann zum umgedrehten „Meisterschaftsprogramm“ führen (jede und jeder lernt in seinem Tempo, nicht mehr alle machen das Gleiche zur gleichen Zeit)
Die Liste an Vorteilen, die sicher noch weiter geführt werden könnte, macht deutlich, welchen Zugewinn Lernende und Lehrende durch das Konzept erhalten können.
Zur Vertiefung:
(unbezahlte Werbung)
Bergmann, Jonathan/ Sams, Aarons: Flip your Classroom: Reaching Every Student in Every Class Every Day - HIER
Eine ausführliche Darstellung auf YouTube durch Dr. Christian Spannagel - HIER
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